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Landflucht (TAZ-Interview mit Ortsbürgermeister Gerd Goebel)

"Eine lautlose Katastrophe"

Die Gemeinde Tiftlingerode im Harz hat alles getan, um für mehr Kinder zu sorgen. Die Einwohnerzahl ist dennoch gefallen. Nun hofft man auf Hilfe von oben.Interview: Friederike Gräff

Gerd Goebel versucht als Bürgermeister die Abwanderung aus Tiftlingerode zu verhindern - mit begrenztem Erfolg.  

Privat

taz: Herr Goebel, die Einwohnerzahl von Tiftlingerode liegt wieder unter 1.000 - ist der Versuch gescheitert, die Babyquote im Ort zu erhöhen?

Gerd Goebel: Nein, es ist ein großer Erfolg gewesen. Wir haben unsere Grundschule auf zehn Jahre retten können. Die Schülerzahl lag schon unter 50 und wir haben durch diese Aktion die Schülerquote auf 95 heraufsetzen können.

Aber die magischen 1.000 Einwohner hat Ihre Gemeinde jetzt wieder unterschritten.

Das stimmt. Aber wir hatten eine super Resonanz weltweit, das koreanische Fernsehen war da, eine argentinische Zeitung, sogar auf der Insel Djerba wurde darüber berichtet, wie wir versucht haben, auf die demografische Entwicklung hinzuweisen. Wir haben in kurzer Zeit 35 junge Familien ansiedeln können.

Warum sinkt die Einwohnerzahl trotzdem?

Weil wir keine Arbeitsplätze haben und weil junge Leute nach dem Abitur in Hamburg, Hannover oder München studieren. Dann haben sie eine tolle Ausbildung und kommen nicht wieder.

Gerd Goebel

62, CDU, ist langjähriger ehrenamtlicher Bürgermeister in Tiftlingerode. Im Hauptberuf Chefredakteur des Göttinger Blick.

Manche Forscher bezweifeln, dass Politik einen maßgeblichen Einfluss auf Familienplanung hat.

Man muss das anders sehen. In Tiftlingerode haben wir ein super Umfeld: Die Kinder werden in Krabbelgruppen betreut, sie lernen schon mit fünf Jahren Tennisspielen, es gibt Fußball, Tischtennis, Kultureinrichtungen. Es hat jahrelang Ferienfreizeiten gegeben, Schnuppernachmittage bei der Feuerwehr. Aber so etwas kann man dauerhaft nur aufrechterhalten, wenn man es professionell macht, und wir leisten unsere Arbeit ehrenamtlich.

Sie selbst haben zweimal pro Monat Ihre Dienste als Babysitter angeboten.

Ich bin gelegentlich zum Einsatz gekommen, aber relativ wenig. Die meisten Familien haben das selbst organisiert und wir haben mehrere junge Damen, die das gegen eine kleine Gebühr gemacht haben.

Eigentlich heißt es, dass - wenn überhaupt - verlässliche Betreuungsangebote familienförderlich sind.

Die gibt es ja. In der Schule werden die Kinder auch nachmittags betreut, einen Hort gibt es einen Kilometer weiter in Duderstadt. Und für den Kindergarten werden die Kinder morgens früh von einem Bus vor der Haustür abgeholt und nachmittags wieder nach Hause gebracht. Aber junge Leute finden hier keinen Job, und wenn sie in andere Städte gehen, gründen sie dort ihre Familien. Das ist nicht nur hier so. Im Harzvorland haben Dörfer schon die Hälfte ihrer Einwohner verloren. Die Geburtenrate ist im Landkreis seit den 70er-Jahren um die Hälfte gesunken.

Hat die Aufbruchsstimmung Tiftlingerode wieder verlassen?

So kann man es nicht sagen. Die Aufbruchsstimmung hält noch an, aber wir bräuchten jetzt eine neue Aufbruchsstimmung, wir bräuchten jetzt richtige Unterstützung von Behörden und der Landesregierung, damit wir Arbeitsplätze bekommen.

Haben Sie selbst Ideen?

Wir sind ja in der Nähe von Göttingen, da gibt es Arbeitsplätze, aber nicht genügend. Wenn von einem Abiturjahrgang von 120 am Ende 110 weg sind, merken Sie das über die Jahre. Das ist eine Spirale, die weh tut.

Waren die ganzen Anstrengungen um Geburten umsonst, wenn es eigentlich an den Arbeitsplätzen hängt?

Nein. Wir haben jetzt den niedersächsischen Ministerpräsidenten, David McAllister, eingeladen, der am 13. April zu uns kommt. Alle großen Parteien, SPD, CDU, auch die Grünen haben wenig Verständnis für die Situation, wir haben eine lautlose Katastrophe auf dem flachen Land, wenn Dörfer sterben, wenn die Natur nicht mehr gepflegt werden kann. Tiftlingerode ist ein Ort, der sich gegen diese Entwicklung stemmt. Und wir hoffen auf Hilfe von oben.

Haben Sie konkrete Vorstellungen?

Wir möchten, dass Behörden nicht nur in den Ballungszentren sitzen, sondern auch in kleine Städte versetzt werden, um dort Arbeitsplätze zu schaffen. Dass Forschungsmittel nicht nur in die Universitätsstädte gegeben werden, sondern dass auch auf dem flachen Land geforscht werden kann . Die Universitäten könnten hier, wo Grund und Boden günstig ist, Außenstellen einrichten. Sie bekommen hier einen erschlossenen Quadratmeter für 40 Euro, in Hamburg zahlen Sie 800.

Stehen Sie im Austausch mit anderen Kommunen mit ähnlichen Problemen?

Viele Leute aus dem Harzvorland kommen zu uns und bitten um Ratschläge, wie wir das Problem gelöst haben. Es gab verschiedene Treffen und wir haben vermittelt, dass man die weichen Faktoren wie Kinderbetreuung fördern muss. Unsere Kommune ist durch die Aktion gestärkt worden.

Aber letzten Endes haben Sie auch keine Antworten.

Wir haben wenig Antworten. Außer: Macht etwas für die Kinder. Aber die anderen haben auch keine Arbeitsplätze.